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Atermismus Essay Raw

A-ter-mis-mus, oder der Masterplan zur Rettung der Welt

Ich bin verwirrt. Aber das ist auch irgendwie kein Wunder. Die Welt ist viel zu komplex, als das ein klarer, gerader Weg durch sie hindurchführt.

Ich habe Angst. Nicht in der konkreten Form als Furcht vor etwas Bestimmten. Soweit ich blicken kann, es scheint keine Monster mehr zu geben. Aber ich spüre etwas in meinem Nacken. Dort wo mein Blick nicht hinreicht. Ich weiß, wenn ich mich umdrehe, wird dort etwas lauern, wie in einem schlechten Horrorfilm.

Es gibt eine Sprache, in der die Vergangenheit vor einem liegt, klar zu sehen, nur in der Ferne schwer zu erkennen. Und die Zukunft liegt hinter einem, unbekannt, vage und voller Überraschungen. Das Leben ist eine Zugfahrt bei der man entgegen der Fahrtrichtung sitzt.

Photo by Patrick Schneider on Unsplash

Ein schönes Bild. Nur, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass wir gerade auf einen Tunnel zufahren, der noch nicht fertig ist.

Ich habe mich entschieden. Dafür nicht mehr dazusitzen. Die Reise nicht mehr passiv zu genießen. Ich werde vorne zum Schaffner gehen, die Nebellichter einschalten und wenn nötig einen klaren, geraden Weg durch diesen verdammten Berg sprengen.

Wow, was ein Pathos. Sorry dafür.

Natürlich war das übertrieben, ich werde wohl auch nie ein Held sein. Das ist ok. In den Worten Exurb1a’s:

Go home Tao. Don’t try to be a hero, or a sage, or a warrior. Just exist for a while and be decent. That’s heroism enough.

and then we’ll be okay

Aber hey, jetzt wo ich eure Aufmerksamkeit habe, habt ihr Lust ein bisschen über die Probleme der Menschheit zu reden?

Ich behaupte mal einfach so, dass viele von euch mit diesen Gefühlen etwas anfangen konnten, vielleicht fühlt ihr euch sogar genau so. Wir reden zwar wenig gemeinsam direkt über Angst und Verwirrung, aber schaut man sich an worüber die Menschheit gerade spricht, welche Geschichten wir miteinander teilen und was die Nachrichten daraufhin produzieren *hust* Coronovirus *hust* (zu früh?), dann scheinen wir eine ziemlich besorgte Spezies zu sein.

Wenn ich versuchen würde die moderne Gesellschaft und dieses Gefühl das momentan in der Luft liegt in einem Wort zu beschreiben, dann vermutlich mit „selbstbewusst Spätrömisch“. Ok. Das waren zwei. Aber wir scheinen die ersten Wesen zu sein, die ihren bevorstehenden Untergang zumindest erahnen.

Wir scheinen uns ziemlich sicher in der Mitte zu befinden.
Der Garten der Lüste von Hieronymus Bosch – Museo del Prado.

Das Schöne ist, ich habe bis jetzt noch zu keinem Zeitpunkt erwähnt wovor ich Angst habe. Je nachdem wie eure Reise bis hierhin aussah, habt ihr eure größte Angst hinter euch gespürt. Ihr habt eure Vorstellung des Untergangs auf den Berg projiziert auf den wir zurasen. Und wenn ich diesem Berg nun einen Namen gebe, werde ich das Bild eines manchen zerstören. Denn ich glaube, das größte Problem der Menscheit ist die: Immigration.

„Waas?? Nicht der Klimawandel?“ oder „Endlich jemand, der sieht was ich sehe!“ Egal wie eure Reaktion ausfiel, ich hab euch reingelegt. Natürlich ist dieser Text über den Klimawandel.

„Puh!“ oder „Idiot!“, ich hab’s schon wieder getan. Dieser Text ist auch nicht über den Klimawandel. Nicht über GAI, Automation, Überbevölkerung, Superreiche, Überwachungsstaaten, Epidemien, Super-Bakterien, Finanzcrashs, SHTF-Szenarien oder Aliens (duh?).

Dieser Text ist nur eine Einleitung. Eine Einleitung für meine Zugfahrt. Ich hoffe, dass ihr vielleicht etwas für eure mitnehmt, aber am meisten würde mich freuen aus eurer zu lernen. Denn meine hat gerade erst begonnen.

Manche von euch sind schonmal durch Tunnel gefahren. Haben Finanzkrisen, Kriege, Hungersnote und Rebellionen überstanden. Manche von euch haben sogar noch die Reise durch den Winter des Kalten Krieges miterlebt. Und ganz vielleicht, es wäre mir eine große Ehre, wenn dem so wäre, hat einer meiner Leser:innen sogar noch Erinnerung an die Fahrt bei Nacht. An die Gräuel, die wir Menschen in unserer dunkelsten Stunde zu Tage brachten. Aber der Weltkrieg ist lange her. Atomschutzbunker sind zu Museen geworden und selbst die letzte Finanzkrise habe ich nicht bewusst miterlebt.

Meine Name ist Heye Groß, ich bin 22 Jahre alt und ich freue mich auf die bevorstehende, lange und glückliche Reise meines Lebens. Auf eine Fortsetzung von dem was war.

Dass viele aus meinem Alter Zweifel und Einwände bei diesem Satz haben, sagt schon viel über unsere Welt aus, oder?
Aber genauso seltsam finde ich die Einstellung der Erfahrenen.
„Das wird schon. Mach dir nicht soviel Sorgen, Junge. Ich hab ja auch bis jetzt überlebt.“
Müsstet ihr nicht diejenigen sein, die uns ermahnen?
„Alle Krisen der Vergangenheit wurden durch harte Arbeit und nicht Optimismus gelöst. Von Menschen die ausstiegen, vorausliefen und den verdammten Tunnel gegraben haben. Bereit alles zu opfern, haben sie die Schienen gelegt, auf denen wir heute fahren.“

Ich habe keine Antworten auf die Frage wie alles ausgeht. Ich weiß nicht, ob dieser Zug nicht zu schnell fährt, als dass wir noch die Zeit haben Schienen zu legen. Aber wir können es versuchen. Und ich kann ein bisschen dabei erzählen. So wie diese netten Sidekicks:

© Netflix – The Witcher
© Python (Monty) Pictures

Vielleicht entsteht ja auch eine Mitmach-Story auf dieser Seite. Ein gemeinsames Choose-Your-Own-Adventure, bei dem wir gemeinsam rausfinden, wie der Blick des Schaffners aussieht.

Ich glaube, die Geschichte mit der wir die Welt retten, existiert noch nicht. Nationalismus, Kommunismus und zuletzt der Kapitalismus sind gefallen (ja klar lese ich Harari), aber eine neue Erzählung ist ausgeblieben. Ich maße mir nicht an diese zu finden, aber vielleicht können wir uns ja gemeinsam auf die Suche machen.

Um den Startstein zu legen, möchte ich eine Idee vorstellen. Eine Theorie, halbgebacken und wahrscheinlich nichtmal neu. Aber so fängt jeder wissenschaftliche Prozess an (zumindest nach WaitButWhy):

Das bis jetzt größte Projekt von Tim Urban. Jedes einzelne Wort lohnt sich.
© WaitButWhy.com

Man setzt eine Idee in die Welt und hofft, dass sie der Kritik anderer standhält. Eure Aufgabe ist also klar. Versucht sie zu zerstören.

Ohne weitere Abschweifung, hier die Idee:

Der Glaube an die eigene Unsterblichkeit macht einen zu einem besseren Menschen.

Hui. Stopp! Religion Red-Flag! Ein Sektenführer!
Burn him at the stakes!

Jaja, ich weiß. Glaube, Unsterblichkeit und bessere Menschen in einem Satz. Das ist noch nie gut gegangen. Ihr habt ja recht. Aber:

Das Vernachlässigen eines eventuellen eigenen Todes verändert Grundannahmen der Moral- und Ethiktheorie und erzwingt das Überdenken fundamentaler Prinzipien unserer Gesellschaft, inklusive der Demokratie und den unantastbaren Menschenrechten, als auch ein Infragestellen persönlicher Wertesysteme zur Entscheidungsfindung. Die resultierende Moraltheorie wirkt zwar auf den ersten Blick konträr zu der jetzigen Vorstellung von Gut und Böse, wird aber, wie jedes Moralsystem, vom Menschen nicht vollständig umgesetzt werden. Die letzendlich praktizierte Moral, die entsteht, wenn Menschen annehmen, dass sie unsterblich sind, ist zu großen Teilen deckungsgleich mit dem, was nach heutigen, auf den Tod bezogenen, Moralvorstellungen, als ideal, aber nicht praktisch, gilt. Jemand, der von seiner eigenen Unsterblichkeit wirklich überzeugt ist, also daran glaubt, wird automatisch Entscheidungen treffen, wie wir sie heute nur einem Heiligen zuschreiben, auch wenn seine Begründung unmoralisch wirkt.

klang irgendwie weniger catchy.

Aber dies ist nur eine Theorie. Eine Lebenstheorie!

P.s.: Dieser Artikel ist einfach nur dazu da, damit Leute später behaupten, ich hätte den Begriff Atermismus geprägt. Was ich auch hiermit tue:

A-ter-mis-mus: Eine theoretische Ideologie, die sich mit den praktischen Implikationen von Unsterblichkeit und Hyper-Long-Term-Thinking beschäftigt. Wortherkunft: ohne (α), Ende (τέρμᾰ), mit dem Derivatem (Ableitungsmorphem-ismus

(ja, alle echten Philosophen und Leute die tatsächlich Altgriechisch beherrschen, dürfen sich jetzt auf Kommando im Grabe umdrehen)

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